Auszugsweise aus Werner P. Binder: Literarische Spurensuche Folge 24 "Im Armenhaus von Lipprichhausen geboren"

Die Mutter des bekannten Würzburger Schriftstellers Leonhard Frank (www.leonhard-frank-gesellschaft.de) stammt aus Lipprichhausen. Sie schrieb unter dem Titel „Der Lebensroman einer Arbeiterfrau“ heimlich einen autobiographischen Roman. Unter dem Pseudonym Marie Wegrainer schildert sie ihren eigenen Lebensweg in Queckbrunn (Lipprichhausen) wie folgt beginnend:

"Es war an einem Sonntagmorgen, der 13. November des Jahres 1852, ein rauher Nordwind tobte über die Stoppelfelder, als in einem einsamen Haus weitab vom Dorfe, im Armenhaus von Queckbrunn, eine Dienstmagd ihr zweites uneheliches Kind Marie zur Welt brachte. Durch die Ritzen der morschen Fensterläden fiel ein schwacher Lichtschein auf die Landstraße. Drinnen in der niederen Stube, auf einem zumBett hergerichteten steiflehnigen Kanapee, lag die Wöchnerin und ihr gegenüber im rotgesteinelten Bett eine gelähmte Bäuerin. Sie war uralt und ihre Augen glichen Kugeln aus Milchglas. Zwischen den beiden schlief das Kind, die Fäustchen an die Schläfen gepreßt, in einem Holztrog, in dem Kartoffelsäcke lagen; darüber waren Windeln gebreitet.“

 Gmeehaus

In seinem autobiografischen Roman „Links, wo das Herz ist“, schildert Leonhard Frank, wie der Text der Mutter ihn und Lisa gefangen nahm: „Sie lasen den ganzen Tag. Alle Kommas fehlten. Aber jede Seite war gegliedert durch Absätze,wie sie sich im Flusse der Erzählung von selbst ergeben hatten. Es war die Geschichte ihres Lebens."

Auf dem weißen Papierschild des Heftes Nr. 1 stand der Titel, in den sie auch das Pseudonym geschmuggelt hatte:

„Marie Wegrainer. Ein Lebensgang. Von ihr selbst geschrieben.“

Sie hatte den Roman heimlich geschrieben, tagsüber am Kochherd, solange der Vater außer Haus auf Arbeit gewesen war. Er dürfe es nicht wissen und nie erfahren. Niemand in Würzburg dürfe erfahren, daß sie einen Roman geschrieben habe. Der Vater würde sich zu Tode schämen vor den Nachbarn und seinen Freunden, stand im Begleitbrief. Tatsächlich hat der Vater von dem Buch, das unter dem vermeintlich attraktiveren Titel „Der Lebensroman einer Arbeiterfrau“ im Münchner Delphin-Verlag im gleichen Jahr wie „Die Räuberbande“ erschien und für das Frank den Fontane Preis erhielt, nichts bemerkt. Das Honorar von 1800 Mark habe die Mutter, wie Frank schreibt, im Laufe von Jahren unbemerkt in den Haushalt tropfen lassen. 1979 wurde der Roman als „eine der wenigen Selbstdarstellungen von Frauen der unteren Klassen in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg“ neu aufgelegt. Das Buch ist aber nicht nur eine authentische Beschreibung der Lebensumstände von Dienstboten im ausgehenden 19. Jahrhundert, es lässt sich auch als Heimatroman lesen.

 

Marie Wegrainer alias Maria Bach kommt laut Kirchenbucheintrag am 13. März 1852 in Lipprichhausen, dem „Queckbrunn“ ihr Buches, als Kind der Müllerstochter Anna Maria Bach zur Welt und wird dort auch getauft. Ein namentlicher Hinweis auf den Vater fehlt. Die im Roman in den November verlegte, so überaus anschaulich geschilderte Geburt im „Armenhaus“, lässt sich, was die örtlicheGegebenheit angeht, wirklichkeitsnah nachvollziehen.

Gmeehaus2

Bis in die 70er Jahre existierte in Lipprichausen ein im Volksmund „Gmeehäusla“ genanntes gemeindeeigenes Anwesen (Hausnummer 18), das immer wieder bedürftigen Leuten als Obdach dienen musste. Die Denkmalliste verzeichnete das eingeschossige Wohnstallhaus bis zum Abbruch als „ehemaliges Hirtenhaus aus dem 17./18. Jahrhundert“ und nannte ausdrücklich „außen liegende hölzerne Schiebeläden“, wohl Ersatz für die im Buch erwähnten „morschen Fensterläden“.

 

Im Herbst 2005 veröffentlichte die Universität von Honolulu in ihrer Vierteljahresschrift „biography“ eine Studie über Autobiografien von Arbeitern des 19. Jahrhunderts mit spezieller Auswertung von Marie Wegrainers Lebensroman.(The struggle for identity in working-class autobiographies of imperial germany)

In der Landschaft zwischen Uffenheim und Rothenburg, wo ein Großteil des Buches spielt, gilt es die Autorin aus Lipprichhausen, die am 20. Oktober 1924 im Alter von 69 Jahren verstorben ist, noch zu entdecken. Selbst an der überaus aufmerksamen Rothenburger Geschichtsforschung gingen Erst- und Zweitauflage des Werks spurlos vorbei, obwohl sich viele lokal identifizierbare Hinweise auf Wohnquartiere, Wirtshäuser und Lebensart darin finden. Und nicht zuletzt erklären sich manche Rothenburg Bezüge in Leonhard Franks bekannter Erzählung „Deutsche Novelle“ besser,wenn man die Wegrainer kennt.

Leonhard Frank hat den Roman seiner Mutter einmal als Wunder bezeichnet. „Wer könne bestreiten, dass sie unter günstigeren Verhältnissen vielleicht eine bemerkenswert gute Schriftstellerin geworden wäre?“ fragte er. Zumindest muss sie ihr Talent an den Sohn weitergegeben haben und an Enkel Andreas. Leonhard Franks Sohn aus zweiter Ehe, in Berlin geboren und in den USA aufgewachsen, schrieb als Professor für Soziologie und Ökonomie eine Reihe beachteter Bücher („Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika“). Während der Allende Zeit in Chile lehrte Dr. Andre Gunder Frank ( 1929 – 2005 ) an derUniversität in Santiago und war Berater des sozialistischen Präsidenten. Weil ihm die US-Regierung deshalb die Wiedereinreise verweigerte, suchte er vorübergehend Exil in Deutschland. In jenem Land, aus dem sein Vater 1933 als von den Nazis verfemter Pazifist ins Exil nach Amerika geflohen war.